9. August 2003, Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton


Im Netzwerk der Wege

Der Berner Autor Franz Dodel schreibt an einem Endlos-Haiku


Nico Bleutge

Wenn die Dinge sich ordnen wollen, wenn sieKontur gewinnen an jenem Ort, der schon immer der ihre war, wird plötzlich das Lärmen der Stille hörbar. In solchen Augenblicken begann der japanische Dichter Matsuo Bashô von den Läusen und Flöhen zu schreiben. Mitten im raumgreifenden Rauschen des Alls sondierte er den Staub seiner Umgebung und berichtete etwa von einem Pferd, das «nahe meinem Kopfkissen Wasser lässt». Doch Bashô verstand es nicht nur, Metaphysisches an den Spuren kruder Körperlichkeit zu brechen, er zeigte sich ebenso als Meister des Haikus, jener lyrischen Kurzform, die in ihren drei Versen zu fünf, sieben und wiederum fünf Silben das Momenthafte und die Dauer so vorteilhaft zu verbinden weiss.

«Ich kehre zurück / zu einigen Fragen um / die ich mich sorge / was ist das was mich berührt? / und wie erträgt man / dass etwas aufhört zu sein?» - vielleicht müssen wir uns den Berner Schriftsteller Franz Dodel als einen späten Wiedergänger Matsuo Bashôs denken. Auf seiner Homepage (www.franzdodel.ch) versucht sich der 1949 geborene Autor, im Hauptberuf Bibliothekar und Referent für Theologie, schon seit zwei Jahren an dem ehrgeizigen Projekt eines Endlos- Haikus, dessen Verse der schweifenden Reflexion verpflichtet
sind und die doch Bilder von grosser sinnlicher Genauigkeit schaffen. Mit seiner Idee begibt sich Franz Dodel in illustre Gesellschaft. Denn obschon das Haiku von jeher auf das Miniature festgeschrieben ist, existiert eine beinahe ebenso lange Tradition des japanischen Kettengedichts, der es um die kunstvolle Verknüpfung solcher Kleinststrophen zu tun ist. Doch auch wenn Formen wie Renga, Renshi oder Renku dem Autor Dodel als Vorbilder dienen mögen: Sein «never-ending Haiku» zielt durchaus in eine eigene Richtung. In seinem mittlerweile auf gegen 5000 Verse angewachsenen Langtext, an dem er nach Möglichkeit täglich arbeitet, begnügt er sich mit einigen wenigen formalen Vorgaben. Dodel spricht sich etwa gegen syntaktische Verstümmelungen, dafür umso stärker für ironische Volten aus und verpflichtet das Gedicht zu regelmässigen Reverenzen an Prousts «A la recherche du temps perdu». Was in diesem locker geknüpften Korsett entsteht, ist ein weitläufiges Mäandern zwischen Sein und Werden, Erinnerung und Sprache, Meditationen und Gedanken über das Ich. Inspiriert von allerlei buddhistischen Vorstellungen, folgt das Endlos-Haiku der Bewegung einer Spirale, die in ihren Windungen Reflexionssplitter über das Fragen oder den «Drang zur Wiederholung» in konzise, an körperlichen und gedanklichen Momenten haftende Bilder überführt. Damit der Leser in der «Weite des sich schichtenden Zeilenmaterials» nicht die Orientierung verliert, flankieren zwei kommentierende Kolumnen den eigentlichen Haiku-Strang. Während die eine Kolumne Gemälde und Fotografien zu Gesicht bringt, versammelt die andere vielfältige Anmerkungen zu jenem Netz von Anspielungen, das der Text zwischen Heraklit und Adorno, zwischen Dante und Proust, zwischen dem Mythos und der modernen Wissenschaft aufspannt.

Das Ideal des Endlos-Haikus scheint eine Kunst der Assoziation zu sein, die keine festen Hierarchien mehr kennt, vielmehr die wundersamsten Mesalliancen hervortreibt:
«langsam zeigt sich in diesem Text / ein bestimmter Plan / den keiner kennt und der / . . . auch niemals feststehen kann / eher zeigen sich / Ornamente die Ordnung / der Labyrinthe». Gemessen an diesem hohen Anspruch allerdings sind die unterschiedlichen Haiku-Einheiten zumeist recht monoton durch Wörter wie «dann», «während», «später» oder «damit» verknüpft. Was der Text selber anstrebt, jenes flussartige «Ausstrecken das sich / seiner gewahr wird», jenes konzentrische Umkreisen des immer Selben, kommt so etwas holprig und überraschend zeitlich und kausal grundiert daher. Auch muten die Assoziationen bisweilen allzu beliebig an, wenn die Zeilen etwa von einer Meditation über die Zeit zu Effi Briest hüpfen, um gleich darauf zu einer Zeichnung aus Kindertagen zu wechseln.

«Ich mag den Stadtrand / wo das Netzwerk der Wege / ausfranst und abbricht», schreibt Franz Dodel irgendwo im Geflecht seiner Verse. An jenen Grenzorten, an welchen die gewöhnlichen Ordnungen ausser Kraft gesetzt sind, gelingen ihm die überzeugendsten Formulierungen, Bilder des Körperlichen, die Matsuo Bashô alle Ehre gemacht hätten. In ihrer scheinbar schwerelosen Fügung erreichen sie tatsächlich jene «Leichtigkeit / die die Schultern belüftet / und das Licht einschleust / in unsre Muskeln».

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